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NIEMAND IN DEUTSCHLAND

 

 

Frankfurt am Main und gegenüber auf dem Dach steht ein Typ.

Was macht der Typ, warum steht er da?

Er steht da. Er macht nichts.

Macht nichts, denke ich, sitze im warmen Zimmer, hinter der großen Scheibe. Kaffee macht mir Sodbrennen, das Glotzen in den Computerbildschirm macht mir müde Augen.

Macht nichts, denke ich.

Der Typ steht da. Kein Elektriker, kein Handwerker, kein Mann von der Werbung. Ein Niemand auf dem Dach. Steht da. Macht nichts.

Ich bin der Niemand auf der anderen Seite. Ich sitze da. Ich mache nichts.

Ach. Doch: Kaffee trinken, Magensäure schmecken, abwechselnd auf den Bildschirm und rüber aufs Dach glotzen.

Wow! Das ist spannend. Sicherlich ergeht es mir nicht viel anders als Ihnen. Dasitzen, Kaffee saufen, glotzen.

Macht nichts, denken wir.

Und dann springt der Typ runter.

Zwei Sekunden und der Typ ist unten. Voll krass. Hat sich totgesprungen. Wir können das Blut sehen. Große rote Lache. Leute laufen umher. Die meisten gehen weiter. Muttis zerren ihre Kinder weg, Halbstarke versammeln sich, irgendwer ruft irgendwen über Handy.

Wir nehmen noch einen Schluck Kaffee, die Galle leckt unsere Zunge. Die Magensäure steigt uns in den Hals. Den anderen im Büro erzählen wir nichts. Selber schuld, die armen Würstchen, müssen schon selber aus dem Fenster gucken, wenn sie aus ihrer Totenstarre erwachen wollen.

Mein Gott, denken wir ohne an Gott zu denken, da springt der Typ also vom Dach.

Wegen der Kälte und dem Schnee ist nicht viel los unten. Das wär’s wohl gewesen, wenn er jemandem auf den Schädel geknallt wäre. Ach, man kann nicht alles haben. Und immerhin gibt es nun einen Niemand weniger auf der Welt.

Zu Hause hat er eine Frau und zwei Kinder, 3 und 5 Jahre alt. Die wissen noch nicht was los ist. Die haben keinen blassen Schimmer. Die Kids werden das sowieso nicht verstehen. Die Alte wird es nur erahnen können. Später macht sie sich ein paar Selbstvorwürfe. Aber nicht zu viele, sie will sich ja nicht geißeln. Die Kids schlafen und träumen schlecht. Einer ist weg vom Tisch, das muss erstmal verkraftet werden.

 

Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders.

Also nochmal:

 

Frankfurt am Main und gegenüber auf dem Dach steht ein Typ.

Was macht der Typ, warum steht er da?

Er steht da. Er macht nichts.

Macht nichts, denke ich, sitze im warmen Zimmer, hinter der großen Scheibe. Kaffee macht mir Sodbrennen, das Glotzen in den Computerbildschirm macht mir müde Augen.

Macht nichts, denke ich.

Der Typ steht da. Kein Elektriker, kein Handwerker, kein Mann von der Werbung. Ein Niemand auf dem Dach. Steht da. Macht nichts.

Ich bin der Niemand auf der anderen Seite. Ich sitze da. Ich mache nichts.

Ach. Doch: Kaffee trinken, Magensäure schmecken, abwechselnd auf den Bildschirm und rüber aufs Dach glotzen.

Wow! Das ist spannend. Sicherlich ergeht es mir nicht viel anders als Ihnen. Dasitzen, Kaffee saufen, glotzen.

Macht nichts, denken wir und wir denken, draußen ist es arschkalt und es schneit und da steht dieser Typ auf dem Dach und der macht nichts. In diesem Nichtsmachen glotzt er herüber. Hierher, zu uns. Er glotzt durch das Fenster und über unseren Schreibtisch hinweg und er glotzt uns tief in die Augen, gräbt uns in den Augen, brennt uns in den Augen. Er glotzt uns an und der Schnee flockt und tanzt zwischen diesem Typen und uns.

Wir sitzen da und denken: spring doch! Spring doch! Arschloch! Spring doch! Aber der Typ macht nichts.

Macht nichts, denken wir und glotzen ihn an und er glotzt uns an und alle glotzen sich an. Schöne heile Welt, denken wir und wissen, dass dem nicht so ist. Wir bescheißen unsere Ehegatten, wir bescheißen die Gläubigen, wir bescheißen uns, wir pumpen unsere Kohle nach JWD und pimpern den Fiskus ins linke Auge, wir schauen zu wie alles vor die Hunde geht und die Hunde führen wir Gassi und wir lassen sie vor unsere Tür scheißen und wir wollen nix checken und wir denken bis morgen, weil uns übermorgen nix mehr angeht. Die Denke nach morgen reicht schnurgeradeaus, von hier, wo wir sitzen, bis da, wo die Tür ist und nach dort, wo wir zu Hause nennen. Wir sind die Spitzenpolitiker, wir sind die Top-Manager, wir sind die Entdecker und Erfinder der Welt. Wir wichsen auf gestern und rotzen auf übermorgen und wir öffnen das Fenster und wir brüllen über die Straße aufs gegenüberliegende Dach!

„Spring doch, spring doch! Arschloch, spring doch!“, das brüllen wir und wir fühlen uns gut dabei weil es ein geiles Gefühl ist und der Typ gegenüber starrt fassungslos herüber und ein paar Leute von unten glotzen entgeistert herauf. Der Typ fuchtelt mit einer Hand vor seiner Stirn und er zeigt uns den Mittelfinger und wir brüllen:

„Du Niemand!“, das brüllen wir und der Typ wendet sich kopfschüttelnd ab und er verschwindet durch eine Luke ins Gebäude und er verschwindet aus unserer Welt und er ist heute nicht gestorben.

 

Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders.

Also nochmal:

 

Frankfurt am Main und gegenüber auf dem Dach steht ein Typ.

Was macht der Typ, warum steht er da?

Er steht da. Er macht nichts.

Macht nichts, denke ich, sitze im warmen Zimmer, hinter der großen Scheibe. Kaffee macht mir Sodbrennen, das Glotzen in den Computerbildschirm macht mir müde Augen.

Macht nichts, denke ich.

Der Typ steht da. Kein Elektriker, kein Handwerker, kein Mann von der Werbung. Ein Niemand auf dem Dach. Steht da. Macht nichts.

Ich bin der Niemand auf der anderen Seite. Ich sitze da. Ich mache nichts.

Ach. Doch: Kaffee trinken, Magensäure schmecken, abwechselnd auf den Bildschirm und rüber aufs Dach glotzen.

Wow! Das ist spannend. Sicherlich ergeht es mir nicht viel anders als Ihnen. Dasitzen, Kaffee saufen, glotzen.

Wir sind zwei Niemands im Strom der Zeit und zwei Massen in einer Gesellschaft aus Millionen Massen. Wir glotzen zu ihm herüber und bewundern die Standhaftigkeit dieses Nichts und wir stellen fest, dass wir nicht stark genug sind für diese Festung. Wir schwächeln und sitzen da zwischen Kaffeebecher und Computerbildschirm.

Wir malen ein Herz mit rotem Edding auf die Scheibe und wir winken aus dem Fenster und der Niemand hebt die Hand und winkt zum Gruß. Niemand Eins nennen wir ihn in Gedanken und fragen uns, was er ist, wer er ist, was er hat, wie viel er hat. Denn wir haben nichts. Das macht uns als Nichts aus. Wir sind verheiratet mit Nichts. Unsere Fortpflanzungsorgane machen nichts. Nichts als nichts. Nichts auf dem Konto außer Minus, nichts im Magen außer Sodbrennen, nichts im Hirn außer Nichtvision. Das sind wir, wir sind Niemand Zwei.

Niemand Eins winkt noch einmal und dann geht er einfach weg vom Dach.

Er will nach Hause und er fährt mit dem Bus und mit dem Aufzug. Im sechsten Stock wohnt er. Die Zimmer sind nicht gelüftet. Es riecht nach Katze und Essen von vorgestern. Auf dem Sofa sitzt eine korpulente Frau Mitte Fünfzig. Auf dem Couchtisch eine Tüte Chips von Aldi und eine 2 Liter-Flasche Cola. Die originale Coke, nicht der Pepsi-Scheiß, kein Sinalco, kein Afri. Echte Coca Cola! Leer gefressen und leer gesoffen. Niemand Eins hängt seine Jacke an einen Garderobenhaken und pisst im Stehen die ersten Spritzer auf den Klorand. Nach dem pissen, spülen und nichthändewaschen geht er an den Kühlschrank und angelt eine PET Aldi-Bier. In der Diele bleibt er stehen und starrt wie jedes Mal, wenn er durch den Flur geht, auf das Foto an der Wand.

Das einzige Foto an allen Wänden. An allen Wänden auf der Welt.

Darauf zu sehen ist sein Mädchen. Fünf Jahre alt mit engelsblondem Haar, und so lockig, und so lockig, und zu lockig! Das Foto ist aus 1996. Heute wäre sein Mädchen eine junge Frau. Wäre wenn … wenn es nicht so lockig wär’! Irgendwem haben diese Locken gefallen. Irgendwer fand diese Locken so toll … so ansprechend … so erregend … Irgendwer. Heute wär’ sein Mädchen … wenn …

 

Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders.

Also nochmal:

 

Frankfurt am Main und gegenüber auf dem Dach steht ein Typ.

Was macht der Typ, warum steht er da?

Er steht da. Er macht nichts.

Macht nichts, denke ich, sitze im warmen Zimmer, hinter der großen Scheibe. Kaffee macht mir Sodbrennen, das Glotzen in den Computerbildschirm macht mir müde Augen.

Macht nichts, denke ich.

Der Typ steht da. Kein Elektriker, kein Handwerker, kein Mann von der Werbung. Ein Niemand auf dem Dach. Steht da. Macht nichts.

Ich bin der Niemand auf der anderen Seite. Ich sitze da. Ich mache nichts.

Ach. Doch: Kaffee trinken, Magensäure schmecken, abwechselnd auf den Bildschirm und rüber aufs Dach glotzen.

Wow! Das ist spannend. Sicherlich ergeht es mir nicht viel anders als Ihnen. Dasitzen, Kaffee saufen, glotzen.

Der Typ auf dem Dach steht einfach da. Ich sitze und glotze. Sie machen irgendetwas und glotzen. Glotzen ist es, was die Welt nicht verändert. Wir glotzen und wir glotzen nicht nur in die Glotze. Wenn wir glotzen, sehen wir dann auch was wir sehen. Das würde ich gerne den Niemand auf dem Dach fragen, das will ich auch Sie fragen, aber sie glotzen, sie lesen, und sie verändern die Welt nicht.

Der Typ auf dem Dach hat sich für den anderen Weg entschieden. Den Weltverändererweg. Sie wissen ja um die Chaostheorie, um den Schmetterlingseffekt, um all die Kuriositäten des Habensollenseins. Wenn Newton als Kind von seinem Apfel erschlagen worden wäre, hätte sich die ganze Weisheit der Welt ab diesem Zeitpunkt anders entwickelt. Ich würde nicht hier sitzen, zwischen Kaffeebecher und Computerbildschirm, der Typ würde nicht auf dem Dach stehen, Sie würden nicht auf diesen Text glotzen.

Der Typ auf dem Dach ist also einer von denen die Einfluss auf die Welt haben. Das haben Sie nicht und das habe ich nicht. Wir sind das Glied in der Kette für das es Millionen Ersatzteile gibt. Er aber, dieser Typ, der lässt sich nicht lösen aus der Kette, nicht mit Zange, nicht mit Wille, nicht mit Gewalt.

Er ist kein Elektriker, er ist kein Handwerker, kein Mann von der Werbung und auch kein Entdecker oder Erfinder. Aber er steht auf dem Dach und er glaubt, weil er an die Welt nicht glauben kann. Er glaubt an etwas, das Sie nicht verstehen, Sie als Glotzender und als Nichtveränderer. Und er glaubt an etwas, das ich nicht verstehe, ich als Glotzender und als Nichtveränderer. Er glaubt und er holt das Ding aus einer Tasche zu seinen Füßen und er baut ein Stativ auf und er ist nicht vom Fernsehen und er ist kein Astronom und dann holt er noch ein Ding aus seiner Tasche und dann steckt er das Munitionslager in das Ding und er schraubt das Gewehr aufs Stativ und dann schaut er durch das Zielfernrohr und er hat mich im Visier und dann hat er Sie im Visier und dann irgendjemanden, der ich oder Sie sein könnte und dann ertönt kein Schuss und unten auf der Straße fällt jemand um und bis irgendjemand bemerkt, was vor sich geht gibt es noch einmal keinen Schuss und noch einmal keinen Schuss und noch einmal keinen Schuss und noch einmal keinen Schuss und überall fallen Sie und ich um und als sich Panik breitmacht, visiert er einen anderen Ort an und es ertönt kein Schuss und kein Schuss und kein Schuss und es fallen noch mehr Sie und ich um.

Der Typ auf dem Dach ist kein Niemand und wer all diese Sie und ich sind, die da fallen, das weiß niemand. Wie viele Newtons oder Oppenheimers oder Picassos oder Jobs’ oder Gates’ oder von Brauns oder Freuds unter ihnen sind. Das weiß niemand. Sie wissen es nicht, weil Sie nie etwas Besonderes wissen und ich weiß es nicht, weil ich nie etwas Besonderes weiß.

Ich glotze fassungslos aus dem Fenster und ich habe nie zuvor einen Menschen sterben sehen und ich habe nie zuvor sechsundzwanzig Menschen sterben sehen und als die Panik vollends flammt und das Geschreie und Gerenne groß ist da unten, da sehe ich den Siebenundzwanzigsten. Er spiegelt sich in der Fensterscheibe vor mir und ich sehe den Typen auf dem Dach und ich sehe nicht gut ohne meine Brille. In diesem Moment aber sehe ich alles. Mich. Sie. Ihn. Seinen Finger, gekrümmt am Abzug, und ich blicke in den schwarzen Tunnel der Mündung und ich sehe den Blitz darin. Siebenundzwanzig. Scheiße.

 

(aus der Serie .totgedeutscht / knipp 02.2010)